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Nordrhein-Westfalen Ungewöhnlicher Job

Wie man mit Schnecken ein Unternehmen aufbaut

Paradies für 500.000 Schnecken: Angelika Dickel lässt Kräuter und Salate sprießen Paradies für 500.000 Schnecken: Angelika Dickel lässt Kräuter und Salate sprießen
Paradies für 500.000 Schnecken: Angelika Dickel lässt Kräuter und Salate sprießen
Quelle: Silvia Reimann
Angelika Dickel vom Niederrhein war Bauführerin bei der Ruhrkohle. Dann kaufte sie sich 40.000 Weinbergschnecken und kündigte ihren sicheren Job. Nun beliefert sie die besten Köche in Deutschland.

Zu Angelika Dickel führt eine Straße, die gerade so breit ist, dass ein Molkerei-Laster darauf passt. Und dass hier Landwirtschaft betrieben wird, ist deutlich zu riechen. Wir befinden uns in Kohlenhuck, einem Dorf am Niederrhein, irgendwo zwischen Moers und Kamp-Lintfort. Dickels Nachbar von gegenüber hält 1200 Schweine. Auch nebenan leben Schweine und ein paar Rinder. Und die Familie am Ende des Wegs hat Milchkühe. Es ist eine Gegend, in der sich die Menschen regelmäßig treffen, zu Goldhochzeiten kränzen sie große Gestecke, sie kochen selbst Eierlikör.

„Können Sie sich vorstellen“, fragt Angelika Dickel lachend und beugt sich an ihrem Küchentisch nach vorn, „wie die reagiert haben, als ich erzählt habe: Ich mach ’ne Schneckenzucht auf?“ Dickel ist 56, seit 16 Jahren lebt sie hier. Bei mir auf dem Feld kannst du dir auch noch ein paar Schnecken suchen, sagte einer der Bauern zu ihr. Doch irgendwie hat es Dickel geschafft. Fürs Erste reichte es ihr, wenn sie nicht ausgelacht wurde. Am Ende halfen ihr die Rinderzüchter und Schweinemäster, die Weide hinter dem Haus für die Schnecken vorzubereiten. Rasen und Wurzeln raus, die Fläche auf eine Ebene bringen, Felder aufbauen. Das war vor zehn Jahren. Seitdem arbeitet Dickel daran, die Weinbergschnecke kulinarisch wiederzubeleben. Sie ist so etwas wie die deutsche Schneckenkönigin.

Die langsamste Weltmeisterschaft der Welt

30 Zentimeter in zwei Minuten und 40 Sekunden - damit errang George unter 175 Wettstreitern den Weltmeistertitel. Seit mehr als 40 Jahren finden im ostenglischen Dorf Congham Schneckenrennen statt.

Quelle: Reuters

Es gab eine Zeit, da waren Weinbergschnecken fester Bestandteil der Spitzengastronomie. Sie fanden sich auf vielen französischen Speisekarten: Meist mit Kräuterbutter überbacken, bekam der Gast sie im Panzer serviert. Mit einer Zange musste man das Haus festhalten und das Fleisch mit einem spitzen Stab herausziehen. Klein und dunkel waren die Tiere, die vorher gekocht wurden, glänzend von der Butter mit einem erdig-nussigen Geschmack. Früher wurden Weinbergschnecken in Feldern und im Garten gesammelt. Doch die Beliebtheit in den Kochtöpfen ließ die Population schrumpfen, bis helix pomatia fast ausstarb und unter Artenschutz gestellt wurde. Das war in den Achtzigerjahren.

Züchter konzentrierten sich auf andere Schnecken. Achat heißt eine, sie kommt aus Asien und ist um ein Vielfaches größer als ihre mitteleuropäischen Verwandten. Wer heute im Feinkostgeschäft Schnecken kauft, bekommt oft zerstückelte Achat-Schnecken, die mit Kräuterbutter in kleine Häuschen gepresst wurden. Sie sind zäh, etwas fahl im Geschmack, von minderer Qualität. Und zugleich kamen andere Exoten auf die Teller: Austern, Jakobsmuscheln, Wachteln. Die Weinbergschnecke war in den 90er-Jahren out. Mehr noch: Allein der Gedanke an Schnecken auf dem Teller löste bei vielen Ekel und Würgereflexe aus.

Eine Missionarin für die Weinbergschnecke

Als Angelika Dickel vor ein paar Jahren den ersten Köchen von ihrer Zucht erzählte, waren die wenig begeistert. Sie hatten vergessen, wie echte Weinbergschnecken schmecken. Dickel wurde zur Missionarin für die helix pomatia. Sie präsentierte ihre Zucht auf Genießer-Messen und verteilte Probierpakete an Restaurants. Ihre Auftritte sind an der Wand des Schneckenhäuschens, einer Verkostungsstube in ihrem Haus, dokumentiert. Dickel mit Koch-Legende Eckart Witzigmann, mit Horst Lichter auf der Show-Bühne, mit Karl-Heinz Böhm bei einer Spendengala. Sie weiß, wie man für die Schnecke wirbt. Sehr gesund seien die Tiere, sagt sie, reich an Omega-3-Fettsäuren und nahezu ohne Kalorien. Könnte man fast eine Diät draus machen. „Na ja, das gleiche ich mit der vielen Butter aus, mit der ich die Schnecken überbacke“, sagt Dickel.

Früher hat Angelika Dickel als Bauführerin bei der Ruhrkohle gearbeitet. Sie hatte schon damals, vor der Schneckenzucht, mit ihrem Mann ein bisschen Landwirtschaft betrieben. Hühner und Rinder lebten auf der Weide hinter ihrem Haus. „Schnecken, das wäre doch was“, dachte sie sich. „Wir haben die früher immer gerne gegessen.“ Mehr Erklärung gibt es nicht, Angelika Dickel wollte einfach Schnecken züchten. Sie fuhr nach Frankreich, um sich anzusehen, wie dort Weinbergschnecken gehalten werden. „Eins habe ich da gleich gewusst“, sagt sie. „So machen wir’s nicht.“

Barfuß oder Lackschuh. Entweder ich mache es richtig oder gar nicht.
Angelika Dickel, Schneckenzüchterin

In traditionellen Zuchtbetrieben leben die Tiere teilweise auf Holzgestellen, dicht an dicht. Sie bekommen eine Art Kraftfutter. Und es sind meist keine originalen Weinbergschnecken, sondern sogenannte Aspersa-Schnecken. Diese Unterart überlebt besser in Gefangenschaft. Aber Dickel ist überzeugt, dass sie anders schmecken. Ihre Schnecken sollten die echten sein. „Barfuß oder Lackschuh. Entweder ich mache es richtig oder gar nicht.“ Zwei Biologen berieten sie, Dickel nahm Bodenproben, las Bücher. Am Ende fand sie eine wissenschaftliche Einrichtung, die ihr 40.000 Weinbergschnecken verkaufte.

Angelika Dickel hatte also große Felder mit Salat, Brennnesseln und Kräutern – und sehr viele Schnecken. „Nur da kannte uns ja noch keiner“, sagt sie. Das war 2006. Die Auftritte auf Messen begannen, das Vorsprechen bei Köchen. Es gab aber ein weiteres Problem: Angelika Dickel konnte noch nicht liefern. Weinbergschnecken brauchen drei Jahre, bis sie ausgewachsen sind. Als es so weit war, erfuhr sie vom Veterinäramt, dass sie für ihren Betrieb eine Schlachterlaubnis benötigt. Die gelernte Bauführerin Angelika Dickel machte also eine Fortbildung zur Schneckenschlachtung. „Eigentlich“, sagt sie, „ist nicht viel dabei.“ Die Tiere kommen in siedendes Wasser, werden zehn Mal gewaschen und drei Stunden in einem Gemüsefond gekocht, anschließend schockgefrostet.

Käfer Feinkost als erster großer Auftrag

Gleich in einer der ersten Wochen, als Dickels Schnecken im Delikatessengeschäft auslagen, rief Käfer Feinkost bei ihr an, das Restaurant auf dem Dach des Bundestages. „Können Sie bis Ende der Woche 500 Schnecken liefern?“ Dickel sagte zu, es war ihr erster großer Auftrag. Sie kaufte Styroporkisten und Säcke voller Crushed-Eis. „Da wusste ich noch nicht, dass man dafür Trockeneis benutzt.“ Sie verpackte die Schnecken, legte sie auf das Eis und brachte sie zur Post. Per Express sollte die Ware bis zum nächsten Morgen in Berlin ankommen. Es glückte, Käfer ist seitdem treuer Kunde. Regelmäßig gehen von Moers aus ein paar Hundert tiefgefrorene Schnecken nach Berlin.

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Trotzdem war der Anfang zäh. Dickel musste geduldig sein, abwarten. Eines Tages klingelte das Telefon. Joachim Wissler, ein Koch mit schwäbischem Zungenschlag, war am Apparat – und Angelika Dickel war aufgeregt. „Sind Sie der Joachim Wissler?“, fragte sie. Ja, genau, der: drei Michelin-Sterne, einer der besten Köche Deutschlands. Gäste von Wissler hatten ihn auf die Weinbergschnecken vom Niederrhein hingewiesen. Nun wollte er ein paar zugesandt bekommen. Angelika Dickel hatte es in die Spitzengastronomie geschafft.

Einmal brachte Dickel selbst eine Lieferung vorbei. Als sie fragte, wie Wissler die Schnecken denn zubereite, bekam sie Wisslers Schneckengericht vorgesetzt: „Das war der Wahnsinn“, sagt Dickel.

Das Telefon klingelt, eine Bestellung. „500 Stück bis Ende der Woche. In Ordnung“, sagt Dickel. Inzwischen hat sie eine lange Liste von regelmäßigen Abnehmern. Restaurants und Feinkostanbieter in ganz Deutschland.

2009, im Jahr des Verkaufsstarts, kündigte sie ihren Job und machte ihr Hobby zum Hauptberuf. Mit den Schnecken lässt sich Geld verdienen, aber die Investitionen sind groß. Mehrere Zehntausend Euro für Profiküche und Schockfroster. Manchmal melden sich Leute bei ihr, die selbst eine Schneckenzucht aufmachen wollen. Dickel gibt bereitwillig Auskunft, bleibt freundlich. „Meistens sind das Leute aus Ostdeutschland, die einen Acker frei haben und ans ganz große Geld denken“, sagt sie. Aber dafür taugen die Tiere nicht. „Das Gute ist, dass die Schnecken sich rasant vermehren. Das Schlechte ist, dass 50 Prozent sterben, bevor sie ausgewachsen sind.“

Am Niederrhein ist die Schneckenzucht zu einer kleinen Sensation geworden. Landfrauen, Männerchöre und Kegelclubs kommen vorbei, um sich die Zucht anzusehen. Und sogar die Kohlenhucker Bauern essen inzwischen Angelika Dickels Schnecken.

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